»was gesagt
werden muss«

Auszug aus dem Gedicht »Was gesagt werden muss« von Günter Grass in einem Bilderrahmen: »Warum schweige ich, verschweige zu lange, / was offensichtlich ist und in Planspielen / geübt wurde, an deren Ende als Überlebende / wir allenfalls Fußnoten sind. / […] / Warum aber schwieg ich bislang? / Weil ich meinte, meine Herkunft, / die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist, / verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit / dem Land Israel, dem ich verbunden bin / und bleiben will, zuzumuten. / / Warum sage ich jetzt erst, / gealtert und mit letzter Tinte: / Die Atommacht Israel gefährdet / den ohnehin brüchigen Weltfrieden? / Weil gesagt werden muß, / was schon morgen zu spät sein könnte; / auch weil wir - als Deutsche belastet genug - / Zulieferer eines Verbrechens werden könnten, / das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld / durch keine der üblichen Ausreden / zu tilgen wäre.

Auszug aus »Was gesagt werden muss« von Günther Grass, veröffentlicht am 4. April 2012 in der Süddeutschen Zeitung

Im April 2012 veröffentlichte der Literaturnobelpreisträger Günter Grass in den Tageszeitungen »Süddeutsche«, »La Repubblica« und »El País« das Gedicht »Was gesagt werden muss« und löste damit einen internationalen Skandal aus. Grass, dessen Ruf als schriftstellerisches ›Gewissen der Nation‹ durch sein Selbstouting als Mitglied der Waffen-SS sechs Jahre zuvor nachhaltig irritiert wurde, klagte in dem Gedicht vor allem den Staat Israel an, dessen »Atommacht« den »Weltfrieden« gefährden würde. Sicherheitspolitische Erwägungen Israels wie die Bedrohung durch den Iran, werden in dem Gedicht bagatellisiert; beispielsweise wird der damalige iranische Präsident und militante Gegner Israels Mahmoud Ahmadinedschad als »Maulheld« verharmlost.

Inhaltlich wurde dem Gedicht vor allem die Täter-Opfer-Umkehr vorgeworfen: Zu Beginn unterstellt Grass Israel einen »Vernichtungswillen« und malt sich eine Welt aus, in der »wir« – also Grass und seine deutsche Leser*innenschaft – als Überlebende lediglich Fußnoten der Geschichte seien. Ob intendiert oder nicht, bedient Grass sich mit der Selbstinszenierung als zukünftiger Überlebender aus dem symbolischen Bedeutungsraum, der untrennbar mit der Shoah verknüpft ist. Die tatsächlichen Überlebenden und ihre Nachkommen in Israel werden zu Täter*innen, das Waffen-SS-Mitglied wird zum Opfer. Das Gedicht inszeniert ein Tabu: Aus Deutschland kann Israel angeblich nicht kritisiert werden. Grass gibt vor, damit zu brechen, um Unrecht zu verhindern, »das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld durch keine der üblichen Ausreden zu tilgen wäre«. Im Gegensatz zu früheren Verbrechen – und welche sollten das sein, außer die nationalsozialistischen? –, suggeriert der Text, dass sich drohende Vergehen Israels aufhalten ließen.

Für das Gedicht erntete Grass einige Kritik, aber auch Zuspruch: Der damalige SPD-Chef Sigmar Gabriel nannte im »SPIEGEL« die Kritik an Grass »hysterisch« und bekräftigte dessen Einschätzung Israels. Der Bundestagsabgeordnete der Partei »DIE LINKE«, Wolfgang Gehrke, sprach in einer Pressemitteilung davon, Grass habe »den Mut auszusprechen, was weithin verschwiegen wurde.«

In Handschrift geschrieben: »Ein ekelhaftes Gedicht«
Marcel Reich-Ranicki

Wird in dem Gedicht israelbezogener Antisemitismus verbreitet? Unabhängig von der Iranpolitik Israels, hätten die Verteidiger*innen Grass‘ doch zumindest über die Passage stolpern müssen, Israel bedrohe den »Weltfrieden«. Die Formulierung im Gedicht legt nahe, dass es einen Weltfrieden geben könnte, wenn Israel nicht wäre. Damit schließt Grass an alte antisemitische Bilder an, die Juden als Kriegstreiber diffamieren, und dadurch vermeintlich präventive Aggressionen gegen sie rechtfertigen.