Leash
the Kraken!
Globalisierungskritik ist nicht per se antisemitisch, aber es gibt auch dort antisemitische Tendenzen. Etwa dann, wenn auf eine bestimmte Symbolsprache zurückgegriffen wird. Als Sinnbild für kapitalistische Wirtschaftsformen oder das Finanzkapital werden zum Beispiel häufig Kraken oder der zylindertragende Marionettenspieler bemüht – wie hier bei den Protesten gegen G20 in Hamburg 2017.
Historisch symbolisierten Kraken eine angebliche, jüdische Weltverschwörung, die den Kapitalismus manipuliert. Eine solche Auffassung impliziert Vernichtungsfantasien: Wer den Kapitalismus auf die planvolle Absicht einer kleinen Minderheit zurückführt, suggeriert damit auch, dass man nur diese Gruppe beseitigen müsste, um soziale Ungerechtigkeiten abzuschaffen. Der Kapitalismus ist jedoch ein abstrakter Funktionszusammenhang, der sich unabhängig von Einzelpersonen fortsetzt.
Was unterscheidet die damaligen NS-Vergleiche von jenen, die heute immer wieder in Bezug auf Israel angestellt werden? Ein wichtiger Unterschied ist, dass es 1968 mehr als heute darum ging, reale personelle Kontinuitäten und Bezüge zur NS-Geschichte transparent zu machen. Denn vielfach waren es dieselben Personen, die zuvor noch direkt oder indirekt an NS-Verbrechen beteiligt waren, in der jungen BRD wieder wichtige Posten bekleideten und nun maßgeblich die Einschränkung von Grundrechten vorantrieben.
›Verkürzte‹ und personalisierende Kapitalismuskritik
In Zeiten der Globalisierung steigt die Komplexität von ökonomischen Beziehungen, gleichzeitig wachsen soziale Ungleichheiten. Zu oft sucht der Protest dagegen einfache Erklärungen und konkrete Schuldige – dadurch wird er schnell strukturell antisemitisch. Mit einer Reduzierung der Verantwortlichkeit auf (oftmals jüdische) Einzelpersonen oder Konzerne wird der Eindruck erweckt, nahezu alle gesellschaftlichen Probleme ließen sich lösen, wenn etwa einzelne Politiker*innen oder Banken abgeschafft würden.
Diese Denkfigur hat Tradition: Historisch wurden Jüdinnen und Juden oft mit Geld und Finanzgeschäften assoziiert. Jene Verknüpfung ist ein Effekt der jahrhundertelangen Diskriminierung und Ausgrenzung aus den europäischen Gesellschaften. Etwa wurde Juden im Mittelalter in bestimmten Regionen und zu bestimmten Zeiten der Zugang zu einigen Zünften, meist der Handwerksberufe, untersagt, sodass vermehrt Handelsberufe ergriffen werden mussten. Über die Jahrhunderte festigte sich darüber die Vorstellung, Jüdinnen und Juden würden sich vor ›ehrlicher‹ Handarbeit drücken: Das Bild vom reichen Juden, der Andere angeblich ausbeuten will, hält sich bis heute.
Die Industrialisierung verschärfte diese moralisch aufgeladene Unterscheidung zwischen ›schaffendem‹ und ›raffendem‹ Kapital: Mit zunehmender kapitalistischer Produktionsweise kam es zu einer Ausweitung des Finanzwesens. Gegenüber den unmittelbaren, konkreten Produktionsprozessen in den Fabriken erschienen die ökonomischen Prozesse der Finanzwirtschaft abstrakt, schwer verständlich und bedrohlich, obwohl beide einander bedingen.
Wo das Finanzkapital jüdisch assoziiert wird, tritt Antisemitismus offen zu Tage. Doch auch ohne diese direkte Gleichsetzung gibt es strukturell ähnliche Vorstellungen in linken Gruppierungen, die alles Übel des Kapitalismus beim Finanzkapital und dessen Vertreter*innen verorten.
Globalisierungskritik
Proteste gegen Globalisierung und ihre sozioökonomischen Auswirkungen entwickelten sich seit den 1990ern. Zunächst formierten sie sich vor allem im globalen Süden und den ehemaligen Kolonien, in denen Menschen von Freihandelsabkommen und den damit umsetzbaren Vorhaben der multinationalen Konzerne direkt betroffen waren. Teils wurden die Kämpfe als Fortsetzung der vorherigen antikolonialen Kämpfe wahrgenommen.
Im globalen Norden und den Industrieländern kamen größere Proteste erst Ende der 1990er auf, vor allem im Zusammenhang mit der 3. WTO-Konferenz (World Trade Organisation / Welthandelsorganisation) in Seattle 1999. Nach Ausschreitungen durch die Demonstrierenden wurde die Konferenz abgebrochen. In der Folge wuchs auch in den Metropolen des globalen Nordens eine globalisierungskritische Bewegung mit Großdemonstrationen gegen Gipfeltreffen von Organisationen wie der Weltbank oder dem Internationalen Währungsfonds (IWF). Ein einschneidendes Ereignis war der G8-Gipfel in Genua im Juli 2001. Hier kam es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Gipfel-Gegner*innen und der italienischen Polizei. Als öffentlich wurde, dass es mehrfach zu Folter und Misshandlungen durch Sicherheitskräfte gekommen war und der 23-jährige Carlo Giuliani von einem Polizisten erschossen wurde, fand die Protestbewegung breite Solidarität in der Öffentlichkeit.
Seither finden die Gipfeltreffen entweder an schwer zugänglichen Orten statt oder wurden, wie beim G20-Gipfel in Hamburg 2017, von einem großen Aufgebot an Sicherheitskräften abgeschirmt.