Gefährliche Denker

»Frankreich dachte deutsch. Zumindest in derjenigen Zone theoretischen Denkens, auf die jetzt alles ankam«, notierte der Foucault-Übersetzer und Journalist Ulrich Raulff in seinem autobiographischen Buch »Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens.« Auf den Punkt brachte er damit die Begeisterung vieler deutscher Studierender an der neuen poststrukturalistischen Theorieschule aus Frankreich während der 70er Jahre. Mit den sinkenden Hoffnungen, durch ›klassisch‹ marxistische Theorie und Praxis die Gesellschaft in absehbarer Zeit grundlegend ändern zu können, verschob sich der Horizont hin zu Denker*innen, die als frisch, unkonventionell, antiautoritär und eskapistisch galten. Es wurde nach anderen Möglichkeiten gesucht, Gesellschaft zu begreifen, und dabei vor allem auf die Funktionsweise der Sprache geschaut. Man räumte der Sprache ein größeres Gewicht ein (linguistic turn), sowohl in der Hervorbringung sozialer Realität als auch in der Möglichkeit ihrer Veränderung. Nicht zuletzt aufgrund dieser Schwerpunktsetzung war und ist die aufregende neue Theorie wohl insbesondere an Universitäten und in Literaturkreisen besonders beliebt. ›Wilde Denker‹ wie Michel Foucault, Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Roland Barthes oder später Jean Baudrillard standen hoch im Kurs und wurden etwa beim Berliner Kleinverlag »Merve« fester Bestandteil des Programms.

Ein Filmstill aus dem Film »Der lange Sommer der Theorie« von Irene von Alberti.

Eine Szene aus »Der lange Sommer der Theorie« (2017) von Irene von Alberti. Der Film beruht lose auf dem gleichnamigen Sachbuch Philipp Felschs, der die Lesekultur rund um die Geschichte des Merve-Verlags skizziert. Foto: Filmstill

Mit dieser Begeisterung für die französischen Theoretiker*innen fiel auch das Berührungstabu gegenüber einiger ihrer Quellen, die im Nachkriegsdeutschland unter Linken bislang eher verpönt waren: Autoren der sogenannten ›konservativen Revolution‹ wie Martin Heidegger, Carl Schmitt oder Friedrich Nietzsche. Raulff notiert: »Umgekehrt erkannte ich, wie dunkel auch immer, in den französischen Texten, die ich damals verschlang, das Wasserzeichen des heideggerschen Denkens.« Diesen und anderen Denkern wurde nach 1945 aber nicht grundlos eine gewisse Skepsis entgegengebracht: Der Vorwurf an sie lautete, dass sie mit ihren Theorien begeisterte Mitläufer oder philosophische Wegbereiter des Nationalsozialismus wurden. Ihre Untergangs- und Größenfantasien vertrugen sich ausgezeichnet mit der nationalsozialistischen Endzeitstimmung, was bei ihrer Lektüre der 70er Jahre kaum mitgedacht wurde. Adorno charakterisierte die Sprache dieser deutschen Autoren als Jargon der Eigentlichkeit: Ihre Worte – Bestimmung, Sein, Schicksal, Ewigkeit usw. – würden »unabhängig vom Kontext wie vom begrifflichen Inhalt, klingen, wie wenn sie ein Höheres sagten, als was sie bedeuten«.

Ein Graffiti aus der Uni: »20 Semester minimum, für Deutschland keinen Finger krumm«