»Pinkwashing« und
Leerstellen der Queertheorie

»Kein Adorno-Preis für Judith Butler. Keine Ehre für Israelhass«, stand auf den Schildern junger Protestierender, die sich am 11. September 2008 vor der Frankfurter Paulskirche versammelt hatten, um gegen die Verleihung des Preises an die renommierte Queertheoretikerin zu demonstrieren.

Butler ist mit ihren wegweisenden Büchern »Das Unbehagen der Geschlechter« und »Körper von Gewicht« eine Ikone der Queer-Theory. Sie will die soziale Konstruktion von Geschlechtlichkeit aufzeigen und damit verbundene normative Vorstellungen dekonstruieren. Letztlich ist ihr theoretisches Werk ein Plädoyer für mehr individuelle Freiheit gegen die Fesseln, die den Einzelnen von der rigiden Geschlechterordnung auferlegt werden.

Ein Foto der Demonstration vor der Paulskirche. Zu sehen ist ein Transparent mit der Aufschrift »Kein Israelhass im Namen Adornos«

Protestierende verteilen am Tag der Verleihung des Adorno-Preises an Judith Butler vor der Frankfurter Paulskirche Schilder. Das Israelfähnchen in Regenbogen-Farben signalisiert sowohl Solidarität mit queeren Menschen als auch mit Israel. Foto: Michael Schick

Eine heftige Debatte löste Butler aus, als sie die antisemitischen, islamistischen Terrororganisationen Hamas und Hisbollah als Teil der Linken bezeichnete: Es sei »extrem wichtig, [sie] als soziale, progressive Bewegungen zu verstehen, die zur Linken gehören, die Teil der globalen Linken sind«. Wie kommt eine Intellektuelle, deren Theorie sich durch ein besonderes Gespür für die feinen Verästelungen von Erniedrigungen im Alltag auszeichnet, zu diesem analytischen Fehlschluss?

Tatsächlich ist israelbezogener Antisemitismus in der queerfeministischen Bewegung ein verbreitetes Phänomen. Den US-weiten Streik zum Weltfrauen*kampftag 2017, an dem sich auch queerfeministische Gruppen beteiligten, organisierte unter anderen Rasmeah Odeh, eine palästinensische Terroristin, die mit einem Sprengstoffanschlag zwei junge Israelis tötete und neun weitere verletzte. Auch beim »Women‘s March on Washington« war mit Linda Sarsour eine Organisatorin beteiligt, die sich mit AntisemitInnen solidarisierte und selbst durch entsprechende Äußerungen auffiel.

Die Ablehnung Israels geht bisweilen sogar so weit, dass die relative Freiheit, die LGBTIQ-Personen in Israel genießen, dem jüdischen Staat noch zum Vorwurf gemacht wird: Mit der freundlichen Politik gegenüber queeren Menschen, betreibe Israel »Pinkwashing« – also das Ablenken von der Situation der Palästinenser*innen durch gezielte Förderung der Freiheitsrechte von LGBITQ. Damit wird das alte antisemitische Stereotyp der Verschwörung bedient, dass hinter allem, was Juden\*Jüdinnen – hier Israel – tun, eine Strategie stecke.

Die in queerfeministischen Szenen oftmals unbedingte Solidarität mit den Palästinenser*innen entspringt wohl einerseits dem Anspruch, Partei für Unterdrückte zu ergreifen – wobei der Blick weniger auf die komplexen Ursachen der Unterdrückung gelegt wird. Andererseits gründet er in einer Irritation der eigenen Theorie durch Jüdinnen und Juden: Queere Theorie hebt darauf ab, Identitäten zu dekonstruieren, aufzulösen und neu anzuordnen. Diese politische Strategie lässt aber eine Eigenheit der jüdischen Identität außer Acht. Wie Bini Adamczak schreibt:

»Die Dichotomie Jüdinnen/Deutsche lässt sich darum nicht auf dieselbe Weise dekonstruieren wie die Dichotomie Mann/Frau, weil zu keinem Zeitpunkt der Geschichte gegen Frauen, Transsexuelle und auch Homosexuelle eine totale Vernichtungsdrohung formuliert wurde. […] Auschwitz hat die Kategorien Jüdinnen und Deutsche in besonderer Weise in die Welt gezwungen – dieses historische Gewicht lässt sich nicht einfach abtragen«

Das politische Instrumentarium der Dekonstruktion verfehlt also die Antisemitismuserfahrungen von Jüdinnen und Juden.