Wider das
bürgerliche Leben
Die im Januar 1967 in West-Berlin gegründete Kommune 1 ist eine Ikone der 68er-Bewegung. Die Vorstellung eines Lebens jenseits von Kleinfamilie, Spießertum und Privateigentum, von sexueller Befreiung und freier Liebe rüttelte an gesellschaftlichen Tabus: Das Zusammenleben von unverheirateten Männern und Frauen war immer noch illegalisiert. Die Mitglieder der Kommune 1 verstanden ihr Wohnprojekt dezidiert politisch und erlangten über ihre Aktionen einige Popularität. »Kommunarden« wie Rainer Langhans, Uschi Obermaier, Fritz Teufel oder Dieter Kunzelmann wurden zu Symbolen des Protests. Obwohl es sie nur drei Jahre gab, wurde die Kommune 1 zu einer Art Modell für viele linke Wohngemeinschaften der Zeit. So entstanden liberalere Vorstellungen des Zusammenlebens und neue Wohnformen mit größeren Freiräumen als in der bürgerlichen Kleinfamilie.
In der Kommune 1 war man der Auffassung, durch die Auflösung der Kleinfamilie, die als kleinste Zelle des bürgerlichen Staates galt, den Faschismus bekämpfen zu können – denn für den Faschismus wurden vor allem unterdrückte Sexualität und autoritäre Familien verantwortlich gemacht. Der für den Nationalsozialismus zentrale Antisemitismus geriet dabei tendenziell aus dem Blick. Die Sexualwissenschaftlerin Dagmar Herzog sieht in der Reduktion des Nationalsozialismus auf Triebunterdrückung ein Generationenmissverständnis: Die spießigen Familienverhältnisse der 1950er seien von den 68ern als Fortsetzung faschistischer Sexualmoral interpretiert worden. Dabei war nach Herzog das Spießertum auf seine eigene Art bereits ein Versuch, die Vergangenheit zu bewältigen. Der Nationalsozialismus sei gar nicht lustfeindlich gewesen, sondern habe beispielsweise Promiskuität, Nudismus und außerehelichen Geschlechtsverkehr geduldet, solange die Sexualität im Dienste der Volksgemeinschaft stand.
Der Sozialpsychologe Sebastian Winter meint sogar, eine unbewusste Wiederholung von Momenten nationalsozialistischer Sexualmoral in der sexuellen Revolution von 1968 feststellen zu können:
»Die Suche nach sexueller Befreiung tradierte neben ihren zweifellos triebfreundlichen Aspekten auch die antilüsterne Entfremdungsfeindlichkeit des Nationalsozialismus. Der Versuch, an den Freudo-Marxismus der Zwischenkriegszeit anzuknüpfen, ersetzte das Paradigma völkischer und familiärer Reproduktion zwar wieder durch das der individuellen Lust, doch war es weiterhin von der Unbarmherzigkeit der ›Natürlichkeit‹ und durch Zwangskollektivität gezeichnet.«
Im neuen sexuellen Leistungsdruck, dem Primat männlicher Lust gegenüber der weiblichen sowie der Vorstellung von Natürlichkeit übertrugen sich auch antisemitische Bilder: Die Verachtung von Verweiblichung, Impotenz, Verklemmtheit wie auch einer vermeintlich künstlichen, gespielten, unechten Erotik machte sich immer wieder auch an dem Bild des angeblich triebgestörten Juden fest. So ist es kein Wunder, dass die vermeintliche Entfesselung der Sexualität Ende der 1960er Jahre keineswegs gegen Antisemitismus immunisierte.